225 MINUTEN DES TAGES (Straßenfeger / Nomaden im Sessel)

Aus dem Fenster schauen. Was passiert auf der Straße? Was ist los vor der Haustür, vor der Wohnungstür? Neuigkeiten aus dem Ort werden ausgetauscht. Tratsch über Bekannte macht die Runde.

„Aus dem Fenster schauen“ wurde in Statistiken über die beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Deutschen bis in die 1970er Jahre regelmäßig unter den ersten zehn Plätzen gelistet. Aber was passiert auf der Straße? Was ist los vor der Haustür, wenn im Fernsehen ein Straßenfeger läuft?

Der Rekord wurde 2011 aufgestellt: Deutschlands Bewohner verbrachten täglich 225 Minuten vor dem Fernseher. Nach 2011 werden die Statistiker immer unsicherer, wo und ob eine Grenze zwischen Fernsehen und Internet zu ziehen ist.

Es ist 18:00 Uhr. Es gibt die 563. Folge einer Telenovela. Eine Folge dauert 30 Minuten.

Straßenfeger ist niemand, der die Straße reinigt. Straßenfeger ist eine Sendung mit hohen Einschaltquoten.

Es ist 19:00 Uhr. Eine Quiz-Show läuft die nächsten 45 Minuten.

Es ist nichts los auf den Straßen. Nichts Interessantes zu sehen beim Blick aus dem Fenster. Das Fernsehen hat das Nah-Sehen abgelöst.

Es ist 20:00 Uhr. Die Tageschau dauert 15 Minuten.

Die Nation versammelt sich vor dem Lagerfeuer der Neuzeit.

Es ist 20:15 Uhr. Ein Krimi oder eine Spiel-Show oder ein TV-Melodram. Ohne Werbung sind es 90 Minuten.

Am nächsten Tag noch die warme Glut des Lagerfeuers, wenn über das Gesehene geredet wird. Mit denen, die gestern gleiches sahen.

Es ist 22:45 Uhr. Eine Talk-Show endet nach 45 Minuten.

Mehr Fernsehkanäle. Unterschiedliche Empfangsgeräte. Immer mehr Lagerfeuer werden entzündet. Die großen Nachbarschaften der öffentlich-rechtlichen Programme werden kleiner. Nomaden im Sessel. Wo finde ich mich wieder? Wo möchte ich sein?

Aufnahmegeräte, das Internet, Mediatheken und Streaming-Dienste lösen das zeitgleiche Fernsehen ab. Jeder entzündet sein Lagerfeuer selbst. Die virtuellen Nachbarschaften werden kleiner. Es gibt keine Straßenfeger mehr. Nach der Ablösung vom Ort, die Aufhebung der Zeit.

Es ist 21:35 Uhr. Jemand schaut die 20-Uhr-Nachrichten.

Es ist 22:17 Uhr. Die Talkshow vom Vortag wird nachgeholt.

Es ist 20:23 Uhr. Die Folge der nächsten Woche ist schon in der Mediathek.

Es ist 20:42 Uhr. Heute lieber was Lustiges.

Es ist 23:19 Uhr. Schon spät. Pause. Stop. Morgen der Rest.